Der Traumwald

Ach, herrlich! So lange bin ich nicht mehr spazieren gegangen. Auf der Fahrt sah ich einen so wunderschönen Wald, ich konnte einfach nicht daran vorbeifahren. Irgendwo strahlte die Sonne mitten in den Wald, diese Stelle wollte ich finden. Ich parkte mein Auto am Waldrand und stieg aus. Schade, dass meine Hündin nicht mehr lebt. Wie hätte sie sich gefreut, hier herumtoben zu können. Es ist das erste Mal, dass ich ohne sie spazieren gehe. Bisher hatte ich immer Angst, alleine spazieren zu gehen. Aber die Sonne schien so herrlich, der Wald duftete verführerisch. Ich liebe diese Mischung aus Moos, Rinde und Pilzen. Die ersten Schritte waren so ungewohnt. Diese Stille. Nur das Rauschen der Bäume, hier ein Knacken, dort ein Knistern. Das Laub unter meinen Füßen. Immer mehr vertiefte ich mich in meine Gedanken. Alte Erinnerungen kamen hoch. Traurige Erinnerungen. Das letzte Jahr war kein Schönes. Hektik, Trauer, Tod und Ängste begleiteten es. Meine Nerven sind nicht mehr die besten. Eine gute Idee, dass ich mich jetzt hier mal endlich entspanne. Ich versuche ganz abzuschalten. Alles vergessen. Nur noch der Natur lauschen. Ich lebe hier – jetzt! Ich nehme den Wind wahr, atme tief durch und lasse alle meine Sorgen raus. Mit jedem Schritt werde ich ruhiger. Mit jedem Schritt entspannter. Ein schönes Gefühl. Mit jedem Schritt tanke ich neue Energie auf. Und nun gibt es auch keine Gedanken mehr. Es gibt nur noch den Wald und mich. Ich verliere jedes Gefühl für die Zeit. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen, so werde ich die spezielle Stelle, die ich gesucht habe nicht mehr finden können. Egal. Ich blicke mich um, wo bin ich eigentlich? Ich war so in Gedanken, dass ich überhaupt nicht gemerkt habe, welchen Weg ich eingeschlagen habe. Mein Orientierungssinn ist sowieso nicht der beste. Ich wähle intuitiv die nächste Abzweigung und versuche tief in mich hineinzuhören. Nichts! Keine innere Stimme, kein Bauchgefühl, das mich jetzt leitet. Ich bin allein – ganz allein. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Ein heruntergefallener Ast? Ein Tier? Alles, was mich vor kurzem im Sonnenlicht noch so begeisterte und entspannte, wurde bedrohlich. Irgendjemand ist doch hier… Ich gehe ein Stück weiter, wieder so ein undefinierbares Geräusch. Ich bleibe stehen – absolute Stille. Wieder ein paar Schritte, wieder Geräusche – ich bleibe stehen – kein Laut. Da ist jemand. Ich bin ganz sicher. Erinnerungen an meinen Überfall kommen hoch. Es ging alles so schnell, dass ich gar nicht weiß, wie mir geschah. Er stand plötzlich vor mir, brüllte mich an und schlug hart zu. Mitten in das Gesicht. Wie ein Stein fiel ich hintenüber. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Aber ich konnte alles hören. Stimmen über mir. Mein Hund jaulte und rannte verzweifelt um mich herum. Ich konnte überhaupt nicht reagieren, hatte auch kein Gefühl. Kein Schmerz, keine Angst. Dann das Nichts. Das Nichts? Nein, das erlebst du nicht. Du kannst es erst erfassen, wenn du wieder erwachst. Wenn du wieder bei Bewusstsein bist. Im Nachhinein eben. Langsam komme ich wieder zu mir. Weiße kahle Wände, am Ende des Bettes stehen meine Eltern und ein Polizist. Angst? Nein, die kam erst viel später…

© Sabine Koss

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